[This article was originally written by Jadaliyya Egypt Editors, and published by Jadaliyya in English. It was translated/published in German by Kommunisten.]
Ägyptens Militär im `Krieg gegen Terrorismus`
Seit dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak wurde Ägypten zu einem Schlachtfeld der Geschichtsinterpreten. Jeder von ihnen versuchte, die Revolution vom 25. Januar 2011 für sich in Anspruch zu nehmen und darzustellen.
Die Machthaber, vor allem die Armee mit ihren Verbündeten, verbreiten in ihrer Interpretation der Geschichte, dass die Revolution erfolgreich war – dank der Intervention der Offiziere. Nach dieser Auslegung ist nun die Zeit gekommen, dass die Protestierenden die Straßen und Plätze frei machen und dass die Arbeiter ihre Streiks beenden und in die Fabriken zurückkehren. Die Revolution könne nur durch vom Militär eingeleiteten Wandel voranschreiten, nur wenn die Menschen jetzt zurück in ihre Wohnungen gingen, nur durch Abwarten neuer Wahlen, der Verfassungsentwürfe und der Verhandlungen der Offiziere und der Eliten über die Zukunft Ägyptens.
Für viele Menschen war jedoch die Revolution vom 25. Januar nicht einfach die Forderung nach einer gewählten Regierung. Für sie umfasste sie eine Menge von Forderungen nach weitreichenden institutionellen Reformen und sozialen und ökonomischen Rechten. Diese Revolutionäre ließen jene Auslegung des Militärs nicht unwidersprochen. Sie wehrten sich gegen die Militärs und ihre zivilen Partner, die danach trachteten, zu verhandeln und ein politisches System zu errichten, dass die revolutionären Forderungen nach einem Wandel eher eindämmen würde, als dass es sie stärkte und erweiterte.
Aber die Widerstandskämpfer für "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" blieben nach Mubaraks Absetzung lange Zeit eine Randgruppe. Sie kämpften für den Widerstand gegen die Geschichtsauslegung der Machthaber. Dabei sahen sie sich einem der großen Widersprüche der revolutionären Volkserhebung in Ägypten gegenüber, welche der 25. Januar offenbarte. Diejenigen, die auf die Straße gingen, konnten genügend Druck erzeugen, um ihr `Veto` gegen bestimmte politische Realitäten durchzusetzen. Jedoch hatten sie wenig bis Null Macht, die Realitäten, die sie umstürzten, durch neue eigene zu ersetzen. Mit anderen Worten: die Menschen besaßen die Macht des Umsturzes, ohne deswegen zwingend die Fähigkeit der Machthaber zum Diktat der nächsten Schritte in Frage stellen zu können.
Die Bedeutung dieses Widerspruchs konnte nicht deutlicher als im Zusammenhang der Ereignisse vor und nach dem 30. Juni 2013 sichtbar werden. In den Tagen der Proteste vor dem 30. Juni unterzeichneten Millionen empörter Ägypter die sogenannte Tamarod-Erklärung, in der es hieß:
"Als Mitglied des ägyptischen Volkes erkläre ich hiermit, dass ich dem Präsidenten der Republik, Dr. Mohammed Mursi, mein Vertrauen entziehe und baldige neue Präsidentschaftswahlen fordere. Ich gelobe, treu zu den Zielen der Revolution zu stehen und für ihre Verwirklichung zu arbeiten, sowie die Tamarod-Kampagne unter den Schichten der Volksmassen zu verbreiten, damit wir zusammen eine Gesellschaft der Würde, Gerechtigkeit und der Freiheit erreichen können."
Diese Initiative begann als Bestrebung, nach Mursis offensichtlicher Nichterfüllung der Forderungen der Revolution vom 25. Januar 2011, öffentliche Unterstützung für baldige neue Präsidentschaftswahlen anzuhäufen. Dieses Bemühen bildet nun eine Grundlage für solche Akteure, die den in der Tamarod-Erklärung formulierten Hoffnungen noch weit feindlicher gegenüber stehen. Es ist richtig, dass jene, die auf die Straßen gingen, vielleicht Erfolg gehabt hätten, eine der höchsten Hürden für einen revolutionären Wandel in Ägypten zu überwinden, nämlich die beunruhigende Allianz zwischen der Moslem-Bruderschaft und den tief verwurzelten Machtzentren, auch bekannt unter der Bezeichnung `tiefer Staat`.
Die am 30. Juni den Höhepunkt erreichte öffentliche Mobilisierung [gegen Mursis Präsidentschaft] machte es aber den Offizieren und dem führenden Sicherheitsestablishment unmöglich, ihre anti-demokratischen Vorrechte weiter hinter der Fassade demokratischer Institutionen und ziviler Punchingbälle zu verbergen. Denn es bleiben Fakten: die Mörder von Khaled Said, Sayed Bilal, Mina Danial und von Gaber Salah `Jika` sind die im Nachgang zu Mursis Absetzung triumphierend Auftretenden. Sie nutzen aktiv die Verachtung für die Regierung der Moslem-Bruderschaft aus, um eine gleichermaßen, wenn nicht sogar noch mehr rückläufige politische Ordnung, als die ihr vorangegangene, zu gestalten.
Ähnlich dem, was sie bereits nach dem 11. Februar 2011 taten, verbreiten die Offiziere heute eine Darstellung, nach der sie (wieder einmal) heldenhaft eingriffen, um die Lage und "die Revolution zu retten". Nachdem sie Mursi von der politischen Macht entfernten und ihn absetzten, erwarten sie nun dementsprechend von den Ägyptern die `Vergütung`. Die Menschen sollen jetzt, wenn schon nicht unterstützen, so doch zumindest die Augen vor den militärischen Praktiken verschließen, die tödliche Gewalt, Unterdrückung und Fremdenfeindlichkeit verbreiten, um ihre Herausforderer zur Unterwerfung zu zwingen.
Die Angst schürende Reden, die das Militär als Teil seiner Initiative des `Kampfes gegen den Terror` einsetzte, hat sich deutlich zu mehr als nur `Worten` gewandelt, spätestens nachdem Sicherheitskräfte am vergangenen Freitag (26.7.), sowie mehrmals vorher Dutzende Protestierender der Moslem-Bruderschaft töteten. [Allein am 27. Juli 2013 starben nach Angaben von Reuters beim gewaltsamen Vorgehen von Polizei und Armee gegen demonstrierende Muslimbrüder mindestens 65 Menschen. Nach Angaben von Sanitätern starben 72 Menschen, in zahlreichen Fällen durch gezielte Kopfschüsse. ] Die brutalen Angriffe am 26.7. erfolgten unmittelbar nach öffentlichen Kundgebungen und Demonstrationen von Millionen von Ägyptern zur Unterstützung des Aufrufs von Verteidigungsminister Abdel Fatah al-Sisi für einen öffentlichen Auftrag zur Bekämpfung von erwarteten „terroristischen Bedrohungen“.
Viele Medienorgane und Meinungsbildner in Ägypten haben unkritisch ihre Unterstützung für diese erschreckende Entwicklung erklärt. Dabei erhellt dieses Vorgehensschema nur das Ausmaß, in dem Verfechter von Würde und Gerechtigkeit im Lande sich in einer mühseligen Schlacht befinden, um die Versuche des Militärs und seiner Verbündeten abzuwehren, politischen Widerspruch zu liquidieren und die Regeln der neuen politischen Ordnung zu diktieren.
Die Bilanz der Moslem-Bruderschaft an der Macht mag vielleicht so fürchterlich gewesen sein, dass Mursis Absetzung gerechtfertigt war. Aber auch in einem solchen Fall wäre es unleugbar, dass die Gewaltkampagne des Militärs gegen die Unterstützer der Bruderschaft und die Verbreitung fremdenfeindlicher Reden gegen deren Aktivisten ebenso wie jegliche direkte oder indirekte Befürwortung solcher Bestrebungen den anerkannten Grundsätzen der Revolution des 25. Januars 2011 vollständig entgegen stehen. Sie widersprechen auch der Vision einer humanen, gerechten sozialen Ordnung, für die so viele Individuen in den letzten zweieinhalb Jahren ihr Leben oder Körperteile opferten.
Es kann keine Freiheit in einem Land geben, wo Medienorgane ausgeschaltet werden, nur weil sie nicht in den Fußstapfen der offiziellen Linie gehen, und wo Individuen sich wegen ihrer politischen Ansichten der Bedrohung durch Haft, Verleumdung und gewalttätiger Vergeltung ausgesetzt sehen. Es kann keine Gerechtigkeit in einem Land geben, wo der frühere Präsident und seine Mitgänger für angebliches Fehlverhalten in einem Verfahren verantwortlich gemacht werden, das von eben dem System beherrscht wird, das unbewaffnete Protestierende tötete, Jungfäulichkeitstests durchführte und die Ägypter lange Zeit der Folter, Erniedrigung und Missbrauch aussetzte.
Es kann keine Würde in einem Land geben, wo der Zwangsapparat des alten Mubarak-Regimes sich selbst unter dem Vorwand einer Initiative gegen den Terrorismus wieder einsetzt. Die Führer der Moslem-Bruderschaft sind schuldig, weil sie es nicht schafften, ein Ägypten aufzubauen, welches nach den Forderungen der Revolution vom 25. Januar 2011 lebt. Aber ihre früheren Verbündeten unter den Offizieren, die heute wieder regieren, sind genauso schuldig.
Wie geht es also weiter in Ägypten?
Es besteht wenig Zweifel, dass der vom Militär gestützte Übergangsrahmen – wie bei dem Vorgänger – strukturell unfähig ist, die ungezügelten sozialen Ungleichheiten zu beheben, die so lange Zeit den Konflikt zwischen großen sozialen Schichten und dem Staat angeheizt haben. Der derzeitige Übergang zielt in erster Linie auf den Schutz der staatlichen Institutionen vor den Forderungen des Volkes nach einem revolutionären Wandel. Nur die Moslem-Bruderschaft durch einen neuen Stab von mit dem Militär verbündeten Zivilisten zu ersetzen – selbst wenn es im Rahmen demokratischer Institutionen geschieht – wird aber den Kampf für Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht niederhalten.
Da mag manch einer argumentieren, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis es zu offenen Zusammenstößen zwischen den Verteidigern einer grundlegenden Transformation und den Befürwortern der militärisch geführten politischen Ordnung kommen wird. Selbst wenn jedoch solche Zusammenstöße wahrscheinlich sind, steht die derzeitige Minderheit, die sowohl gegen das Militär wie gegen die Moslem-Bruderschaft steht, vor erheblichen Herausforderungen. Die Ereignisse der letzten Woche(n) sind der schmerzhafte Beweis des bevorstehenden steinigen Weges. Die Revolution vom 25. Januar 2011 steht nun vor dem Überlebenskampf in einem Umfeld, in dem Macht und Widerstand mehr als je zuvor miteinander verwoben sind.
[Click here to read this article in English.]